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Alexander Camaro (21.9.1901 - 20.10.1992) ist einer der großen deutschen Künstler der Nachkriegszeit. Bekanntgeworden als Maler, war er zugleich Tänzer, Artist und Musiker. Sein spannungsreiches Oszillieren zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion charakterisiert ihn. Camaro scheint ein Leben lang - und das macht ihn sympathisch - Skrupel empfunden zu haben, wenn es darum ging (auch ihm), die Welt des Objektiven und Konkreten der Subjektivität des menschlichen Gestaltungswillens zu unterwerfen. |
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Biographie und künstlerische Entwicklung:
In Breslau, wo er 1901 als Alphons Bernhard Kamarofski geboren wird, wächst er auf und studiert: Musik auf der einen Seite (Violine am Konservatorium), Schaustellerei und Artistik auf der anderen, und in der Mitte: die Malerei. Sein Lehrer ist Otto Mueller, der Brücke-Maler (1920-25, Staatliche Akademie für Kunst und Kunstgewerbe); auch er zurückhaltend in der Oktroyierung des artistischen Gestus: berühmt und wunderschön seine melancholischen Badenden und deren schwebende Sinnlichkeit. "Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön..." - mit dem "Faust" lässt sich die Aura der Müllerschen Paradiese trefflich beschreiben. Müller bleibt Camaro lange Zeit verbindliches Vorbild. |
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Otto Mueller: Zwei Mädchen im Grünen. |
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Otto Mueller:
Zwei Mädchen im Bach |
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Alexander Camaro: Gerti, 1923 |
Ein Meisterwerk aus der klar von Otto Müller beeinflussten, expressionistischen Phase ist das folgende Porträt, in dem aber in der Ausführung von Hintergrund und Mantel auch schon ein Penchant zum Abstrakt-Malerischen sichtbar wird: |
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1926 gründet Camaro allerdings seine eigene Malschule (1926/7) und wendet sich ersten abstrakten Versuchen zu. Aber die Expressivität des Körperlichen lässt ihn nicht los: er studiert Ausdruckstanz bei keiner geringeren als Mary Wigman (1928-39 in Dresden), und wird sogar deren Partner in Wigman's großer, pazifistischer Choreographie "Totenmal" (1930), in der Camaro den Kriegsgott mimt. Bis 1939 wird er regelmäßig auf der Bühne stehen, nein: expressiv sich dort bewegen, auch auf den Brettern der Deutschen Oper Berlin. Zirkus, Variété und Bordell, dass sind die Milieus, die ihn, wie manch einen anderen Künstler der Epoche, inspirieren. |
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Otto Mueller: Tänzerin |
Mary Wigman am Lago Maggiore, Tessin, Ascona, rechts außerhalb des Bildes der Monte Verità, die berühmte Künstlerkolonie |
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Mary Wigman und Alexander Camaro in "Totenmal", 1930 |
Als 1933 die Nazis Deutschlands größte Künstler als "entartet" stigmatisieren, vertreiben oder zur Untätigkeit verurteilen, trifft dies auch Camaro, der sich nun verstärkt der Bühne zuwendet, viel reist (Frankreich, Griechenland, Niederlande) und in Deutschland illegal sich aufhält (so in Pommern, "versteckt in einem Kinderheim"). Mit einer Tanzpartnerin schlägt er sich durch, als Tänzer (Pseudonym: Alexander Kamaroff, Ballettmeister der Landestheater von Gotha und Allenstein), Artist (Seiltänzer bzw. "Turmseilläufer", wie Camaro bevorzugt, sowie "Parterreakrobat", wobei er sich gefährlich verletzt) und Schauspieler (u.a. in Willi Schaeffers' Kabarett der Komiker) in Theatern, Cabarets, Variétés, Opern und auf Tourneen (ja, auch für die Wehrmacht). Durch kriegsbedingt Ein- und Umlagerungen sowie Brand geht fast sein gesamtes Frühwerk verloren. |
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Alexander Camaro: Drei Figuren |
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Alexander Camaro: Vor der Kasse | |||||||
Alexander Camaro: Liegende, 1922 |
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Nach dem Krieg, ab 1946, arbeitet er wieder als freischaffender Künstler, v.a. in Berlin, wo er ab 1951 große Erfolge feiert. 1946 entsteht der große Zyklus von 18 Bildern: das "Hölzerne Theater", mit dem er zu seinem persönlichen halb-abstrakten Stil findet und seinen Ruf, ja seinen Ruhm begründet. |
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Werner Heldt: Pfingsttag, 1952 |
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Paul Klee: Mutter mit Kind, 1938 |
Zahlreiche weitere Namen von Künstlern, die Camaros Umfeld bilden, finden sich in der Bibliographie unter (beteiligte Künstler >) bzw. gleich hier. Der weite zeitgenössische Rahmen, in dem Camaros Kunst steht, ist v.a. das Informel, aber eben nicht nur: Camaro läßt sich nicht auf Abstraktion reduzieren. Man müsste für ihn und Geistesverwandte wohl einen neuen Begriff kreieren; vielleicht den des 'Eidetikers': 'Eidetiker', so ließe sich definieren, wollen die Welt nicht einfach abzeichnen, abmalen, abbilden; sie wollen auch nicht bedeutungslose, kühle Formen und Kompositionen kreieren, noch arbiträr kodierte Zeichen produzieren. Sie möchten ebensowenig bedeutungsschwangere Symbole erzeugen, die durch ihre Ähnlichkeit zum Bezeichneten dieses evozieren, oder etwa Allegorien, also Personifizierungen oder bildhafte Zeichen. Vielmehr wollen sie eine auf das subjektiv Charakteristische abstrahierte, schematisierte Gestalt erfassen, einen Umriss des Gemeinten oder auch nur suggestiv Angedeuteten (griech.: to eidos = das Gesehene, die wesenhafte Gestalt). Die Aufzeichnung der wahrnehmbaren Wirklichkeit kann dabei sogar zur schwebenden Anspielung werden, schwebend zwischen dem häufig durch reduzierte 'Photo-Ähnlichkeit' (immer noch) erkennbar Gezeichneten und Bezeichneten und der puren Form, die entweder kodiertes Zeichen ist, der hier aber nicht arbiträr eindeutige Bedeutung angeheftet wird, oder Abbild "reiner" (Kantischer) Ordnung. Es geht jedoch nie um einen kalten 'philosophischen' Diskurs über reine, kategoriale Formen, noch um resolutes Bedeuten, um das pragmatische, zupackende Identifizieren und BeGreifen dessen, der 'mit beiden Beinen im Leben steht' und mit Phantombildern nach Dingen fahndet, die er fassen will; auch nicht um das herrische Welt-Konstruieren absoluter Schöpfer; vielmehr geht es um das empfindsame, scheue Anklingen-Lassen des subjektiv Wesentlichen, das (die allermeisten) Lyriker bevorzugen, die sich, weltverschmerzend und doch weltbegehrend, Schutz suchend ein Stück weit in die eigene Innerlichkeit zurückgezogen haben, und die Welt so beschreiben, wie sie sich ihnen darstellt, wie sie für sie schön, erträglich oder unerträglich ist; aber eben doch: die Welt - und nicht bloß die subjektive - oder objektive Ordnung. Taucht pure Form als reine Ordnung auf, so ist diese nicht durchtränkt vom überzeugten, ungetrübtes Glück verheißenden Pathos der "Konstruktivisten", die eine neue, gereinigte Welt bauen, sondern dann ist sie der eher zaghafte Versuch, eine utopische Ordnung der Dinge zu entwerfen, wohl ahnend, dass solche Entwürfe vom Lauf der Welt immer wieder gestört werden, oder es handelt sich eher noch - bedingt durch die zeitgeschichtlichen Erlebnisse der "Eidetiker" - um das in Erscheinung Treten einer herrschenden, ja oppressiven 'objektiven' Ordnung, in der das Subjekt in der Klemme sitzt. Ein "Eidos" wäre dann nicht nur ein Wiedererkennungsschema, sondern auch wie ein Sternbild, das die Römer auch "Signum" nannten: es deutet durch seine manchmal nur sehr vage Ähnlichkeit etwas an, so dass der Sensible, ob nun Künstler oder Betrachter, quasi träumend, etwas 'hineinsehen' kann, durchaus auch mit einer sich eröffnenden Mehrdeutigkeit - oder aber es begreifen als das im funkelnden Verlöschen aufscheinende 'Nirwana'... Nur, dass hier nicht finale Erlösung von der Welt das Ziel ist, sondern lediglich der vorübergehende Rückzug empfindsamer Welterotiker. Mit der Zeit wird Camaros Bildsprache zunehmend abstrakter; Farb- und Linienspiel treten in den Vordergrund, die Palette reduziert sich auf ein Spektrum des 'Wesentlichen'; der Gegenstand tritt fast völlig, ja zum Teil auch ganz zurück; aber nie wird der sensible Weltbezug zur Gänze gekappt; immer, und am Ende intensiver denn je, werden 'Gestalten' durch Camaros Welten geistern. Wirklichkeit bleibt also, wird aber lyrisch-melancholische Chiffre. Und zugleich kommt hinzu, was man schwer in gedruckten Reproduktionen sehen kann, am schlechtesten auf Bildschirmen: eine konkrete Materialhaftigkeit des Bildkörpers (die andere, wie z.B. Tàpies, zum Hauptziel ihrer Forschungen machen). Nicht von Ungefähr wird sich Camaro auch als Objekt-Künstler versuchen. Auch durch diese Materialhaftigkeit unterscheidet sich Haltung und Gestus der 'Eidetiker' von der Herangehensweise der "Konstruktivisten": wollen diese die Komplexität des Objektiven glätten, um es bruchlos in das Fachwerk ihrer Weltkonstrukte hineinzuspachteln, so lassen jene sowohl das Unbeherrschte und Unüberschaubare der eigenen Subjektivität in einer graphischen "Ècriture automatique" aufscheinen, wie auch das Ungezähmte und eigendynamisch sich Verästelnde des Malmaterials, das pars pro toto mundi steht. Dennoch, Camaro ist eben nicht Jackson Pollock oder Antoni Tàpies oder Emil Schumacher, die sich fast ganz dem Pol der psychischen und objektiven Materialhaftigkeit verschrieben haben, die eine der beiden Seiten jener Medaille namens Abstraktion darstellt: auf der einen Seite ist sie kategorisch "rein" und makroskopisch strukturiert, auf der anderen überaus konkret, bis hin zu wimmelndem, mikroskopischem Detailreichtum. Für einen 'Eidetiker' ist und bleibt Malmaterial und Malgestus - wo nicht Instrument, so doch - Medium der eigenen Subjektivität (während die 'Konkretisten' ihre Subjektivität zum Instrument des Materiellen machen). "Zwiegespräch" aus dem Jahr 1946 zeigt die einsetzende Entwicklung: noch immer klare figürliche Elemente, aber schon: flächig-abstrakte Komposition. Charakteristisch auch ein Thema und zugleich eine Stimmung: der schwierige Dialog, Verletzlichkeit, die Einsamkeit, Melancholie... Rechts sehen wir den "Turmseilläufer", also ihn selbst, ohne Kopf, ja mit - so scheint es - zersprengtem Schädel, der die Artistin im erotischen Köstum, aber mit orientalischem Schleier versucht anzusprechen; sie aber, hinsehend zwar, wendet sich ab, wohl um gleich auf einem Holzweg hinter undurchschaubaren, opaken Kulissen zu verschwinden... Kommunikation und Verständlichkeit nur in Ansätzen, eher Undurchschaubarkeit; Begehren schon, aber Erreichbarkeit, klares Be- und Zugreifen: nein; statt dessen fragiles Gleichgewicht eines Arrangements der Innerlichkeit. |
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Alexander Camaro: Zwiegespräch, 1946 Vergrößerung? Hier klicken! |
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Alexander Camaro: Bootsverleih, 1952 Vergrößerung? Hier klicken! |
"Bootsverleih" von 1952 zeigt einen weiteren Schritt: zwar erkennen wir, spätestens wenn wir den Titel lesen, eine Mondsichel, die sich in einem See spiegelt, einen Fisch, Boote, einen Steg, ein Bootshaus - aber zugleich sind alles reine Formen, hineinkomponiert in eine abstrakte Gesamtgestaltung. Und wieder: diese typische Melancholie: niemand da, einsamer Blick auf einen verloren daliegenden See von schwarzer, unergründlicher Tiefe... |
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Alexander Camaro: Clown mit Peitsche, 1949 Vergrößerung? Hier klicken! |
Der "Clown mit Peitsche" von 1949 zeigt eine andere, deutlich konfliktreichere Beziehung zwischen Subjekt und Ordnung: wütend und doch selbst gebeugt versucht der Clown, die immer lachend weinende Figur, seine Umwelt, in der er eingekeilt ist, mit knallender Peitsche zu dressieren; aber die ihn umgebende 'Ordnung der Dinge' oder der Gesellschaft hat die Charakteristik eines Spinnennetzes einerseits, in dem er hilflos zappelt, und eines Beckens voller Wasser andererseits, das er allenfalls ein wenig wird aufpeitschen können - keineswegs ein Moses, der gottbegünstigt triumphierend die geteilten Fluten durchschreitet... Oder ist der Clown etwa die Spinne, die das Netz beherrscht? Als Vertreter der allgegenwärtig gaukelnden Medien, an denen die meisten von uns hoffnungslos kleben bleiben, um vom dahinter stehenden Konsumsystem ausgelutscht zu werden? Oder ist das 'Wasserbecken' eher Dach von einem Häusermeer, in dem da die Sonne untergeht, und in dem die Peitsche verschwindet, deren Parallelen ein Bahnsystem formen, gleich jenen, auf dem wir täglich unentrinnbar unserer 'Berufung' entgegenrollen? Wir sehen: Camaro hält ein signifikantes Netzwerk an Doppeldeutigkeiten für uns bereit, das, statt im Trüben zu fischen, suggestiv in bestimmte Richtungen deutet... |
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Auch die "Wege im Gebirge" aus den "Aufzeichnungen eines Geheimagenten" deuten auf ominöse, konspirative und schicksalhaft massive 'Um-Stände' hin. Diffzile Untersuchungen scheinen angestellt werden zu müssen, um den Verlauf der einzuschlagenden Wege in Erfahrung zu bringen... Ob hier aber klare Antworten zu erwarten sind, ist zweifelhaft, denn die Umwelt scheint sich zu einem System von Hieroglyphen zu verwandeln, ja in kaum dechiffrierbare, gleichsam prähistorische Ritzzeichnungen, zu denen hier der Wald gerät, den man vor lauter Bäumen nicht zu sehen bekommt. Charakteristisch also das Spiel mit einer abstrahierten Objektwelt, die Zeichencharakter gewinnt. Andere, wie Mark Tobey (der in Teilen seines Werks ein verwandter 'Eidetiker' ist), werden diesen Weg der Verwandlung einer sicht- und verstehbaren Wirklichkeit in komplexe, vertrackte, völlig abstrahierte und nicht mehr lesbare Zeichensysteme noch weiter gehen... |
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Alexander Camaro: Mond über toter Stadt, 1953 Vergrößerung? Hier klicken! |
"Mond über toter Stadt" soll hier nocheinmal verdeutlichen, wie eine offensichtlich als feindselig, ja bedrohlich empfundene soziale Umwelt den zur Melancholie neigenden Camaro zum Rückzug in eine stille, "nächtliche" Innerlichkeit bewegt. Bildernische Abstraktion scheint bei der Abstandnahme von diesem konkreten Umfeld hilfreich zu sein. Und wieder die zeichenhafte Abstraktion: Sehen wir hinweg über Dachlandschaft, Antennen-Wald oder Straßenlabyrinth einer im Konsumrausch des Wirtschaftswunders ihrer Wachheit verlustig gegangenen oder gar erstorbenen Nachkriegsgesellschaft, die zum Friedhof ihrer selbst geworden ist, oder haben wir es mit einer 'reinen' 'Zen'-Komposition zu tun? |
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Alexander Camaro: Achterbahn, 1952 |
In einem Werk wie "Achterbahn" (1952) finden sich zwar noch thematische Anspielungen, aber die Bilder präsentieren sich dem Betrachter prima vista als gegenstandslose Kompositionen. Hier würde man ohne den Bildtitel nichts widererkennen. Dennoch: Der Titel ist Teil des Werks und macht scheinbar abstrakte 'Gestalten' inhaltlich identifizierbar. |
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Alexander Camaro: Ein Sommertag, 1954 > Vergrößerung? Hier klicken! |
Aber auch noch in den fünfziger Jahren bleibt stets das Gegenständliche in Camaros Bildern präsent. Auf das Sinnliche des Körperlich-Leiblichen, auf die Erotik des Weltbezugs will der Künstler nicht verzichten! Ein hüllenloser Frauenkörper, ein Nachmittag, ein Sonnenuntergang und wohl auch ein Mondaufgang am Badestrand scheint hier seine Spuren im malerisch wiedergegebenen, lyrischen Gedächtnis hinterlassen zu haben... (Hommage auch, à la Camaro natürlich, an den alten Meister, Otto Müller.) |
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Nicht bloß ein abstrakter Kompositeur will Camaro in seinem Schaffen sein. Sogar der Anspruch einer empathischen, ja mahnend-utopischen Ethnologie fremder Gesellschaften, aber auch der eigenen, ist erklärtermaßen vorhanden. "Reinkarnation eines Indianers", das ist natürlich keine Feldstudie im Stile Catlins, sondern eher die versuchte Wiederbelebung einer versunkenen Kultur, ausgeführt als nahezu abstrakte Komposition in erdig-ledriger Farbmaterie im Kontext einer Zivilisation aus Stahl und Chrom, Lack und Plastik. Im Gestus durchaus schon Beuys verwandt. Aber trotz aller Abstraktion meinen wir - der Titel suggeriert's - Hände, Federhauben, einen schamanischen Tanz in ekstatischer Umnachtung, aber mit visionärem Silberstreif zu sehen... Dennoch: deutlich abstrakter als z.B. der "Sommertag" von 1954. |
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Auch "Im Tal der Könige" von 1967 entsteht aus diesem ethnologisch-kulturhistorischen Interesse, bezieht sich der Titel doch auf das Tal der Könige in Ägypten, in dem zahlreiche Pharaonen begraben liegen. Sicher kein Zufall, dass das schwarze Zeichen in der Mitte wie eine abstrahierte Version der "Feder der Maat" wirkt, also jenes Zeichens, das am meisten die alt-ägyptische Welt- und Gesellschaftsordnung symbolisiert. Der glatten, aseptischen Kultur der zeitgenössischen Industrie- und Konsum-Gesellschaft, die im "Hier und Jetzt" lebt und ihren Horizont auf die Rationalität des Produzierens beschränkt, werden also Weltsichten gegenübergestellt, in denen noch das Streben nach dem Mythischen, Mystischen, Jenseitig-Ewigen lebendig ist. Allerdings, so scheint es, wie eine ferne, vage, wehmütige Erinnerung an etwas unwiederbringlich Verlorenes, die aber dennoch in der Lage ist, die polierte, sich selbst bespiegelnde Oberflächlichkeit dieses synthetisch-grellen Lebensstils aufzurauhen und dessen unendliche Selbstbespiegelung durch die matte Tiefe und Erdhaftigkeit der (Farb-)Materialität zu unterbrechen, die hier jenseits jeden geeichten industriellen Formprozesses, ebenso fließend wie rauh, ihr Eigenleben bewahren, und zugleich Diagramm subjektiver Schwingungen sein darf. Aber auch sehr moderne, zeitgeschichtliche und aktuelle Einflüsse werden sichtbar: die Strömung der "Farbfeld-Malerei" ("Colorfield Painting") innerhalb der "lyrischen Abstraktion" ("Lyrical Abstraction"), insbesondere die Weiß-in-Weiß-Malerei, die (als Teil der breiteren Strömung der monochromen Malerei ["monochrome Painting"]) wohl mit Malewitschs berühmtem "Weißen Quadrat" begonnen hat, und noch heute weiterlebt. Diese 'Exerzitien' in monochromer Malerei bleiben bei Camaro jedoch auf Teilbereiche der Gemälde beschränkt. Sie nehmen nicht die ganze Leinwand ein, wie etwa bei Robert Ryman, an dem, neben Anderen, Camaro sich vielleicht inspiriert hat. |
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Immer noch auf derselben Linie liegt "Tauros" von 1969.
Farbfeldmalerei steht hier ebenso Pate, wie jene Richtung, die selten, aber sehr treffend "Materialbild" genannt wird, vertreten etwa durch Antoni Tàpies, Rolf Nesch oder später Anselm Kiefer. Aber auch ein Klassiker der noch-gegenständlichen Malerei mit einer mythologisch inspirierten Serie scheint Camaros Phantasie angeregt zu haben: Picasso und seine Minotauros-Bilder. Was dem großen Meister allerdings Ernst ist, macht hier den Eindruck, ironisch gebrochen zu sein - oder dürfen wir auch bei Picasso einen Schuss Selbstironie auf den (eigenen) Männlichkeitskult entdecken...? |
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Dass aber in den 60ern die Entwicklung Camaros eher in Richtung Abstraktion verläuft, lässt sich schon an der vorstehenden Serie beobachten, und wird an den folgenden Beispielen um so klarer: Das Aquarell "Corona Nr. 5" lässt an zweierlei denken: einmal an die verwandten, auch nicht immer ganz abstrakten Komposition des Julius Bissier, und dann an die fernöstliche, chinesische und japanische Tuschmalerei, von der beide Künstler angeregt sind (was bei Bissier in anderen Bildern sehr viel deutlicher zu sehen ist. Beide Vergleichsbilder hier Schwarz-weiß-Versionen von farbigen Originalen). Beide auch verwirklichen in Reinform, was der Begriff "Lyrische Abstraktion" suggeriert, der eine Sonderströmung des "Abstrakten Expressionismus" bzw. des "Informel" oder auch des "Tachismus" erfasst, nämlich eine abstrakte Gestik voller zarter, subjektiver Lyrik, ganz im Gegensatz etwa zur wuchtigen, klaren Expressivität anderer Abstrakter, zu denen der Terminus "Expressionismus" wesentlich besser passt, etwa Franz Kline, Robert Motherwell, Hans Hartung oder K.R.H. Sonderborg. Nicht ohne Grund wird hier auch von "Action Painting" gesprochen, zu dem wiederum als Randphänomen das "Drip Painting" eines Jackson Pollock gehört. Fließende Farbe finden wir stellenweise auch bei dem allseits offenen Camaro, nicht zuletzt in seinen Aquarellen! Allerdings drückt der Fluss der Farbe hier weniger die subjektive Geste aus, sondern das Eigenleben des objektiven Materials. |
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Camaro ist allerdings so weit auch Chamäleon, dass er zugleich die expressive Seite des Informel seiner Palette einverleibt: auch bei ihm finden wir klare, harte, wilde Linien und kräftige Farben. Allerdings hat er es zu keinem Zeitpunkt bis in die "hard edge"-Extreme eines Joseph Albers oder eines Victor Vasarely getrieben. Nie wird der Welt die totale Klarheit und Rationalität geometrischer Konstruktion und homogener Farblichkeit angedichtet. Vielmehr bleibt sie ein Stück weit diffus, also immer zum guten Teil unbegriffen, und stets so subjektiv, wie die freie Ausdrucksgeste. |
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Ein Höhepunkt dieser Entwicklung Camaros einerseits in die Abstraktion, andererseits in die 'Konkretion', sprich in die Detailliertheit und Stofflichkeit des "Materialbilds" ist beispielsweise das folgende Gemälde, mit dem die Abstraktheit des Bildes trefflich fassenden Titel "Fuge" von 1968 (wenn auch ein Jahr früher als "Tauros"). Diese Art der Konkretion ist tunlichst nicht zu verwechseln mit der "konkreten Kunst" abstrakter Konstruktivisten à la Doesburg und Mondrian. Eher ist sie verwandt mit der Materialität eines Karl Fred Dahmen (Bilder hier!) oder mit dem Genie des großen Emil Schumacher (Bilder hier!), aus dessen Bildern man ein Stück in Briefmarkengröße herausschneiden kann, um immer noch ein differenziertes Gemälde in der Hand zu halten (und der seinem Stil noch jahrzehntelang treu blieb). |
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Nicht nur Tanz und Musik inspirieren die Bildnerei Camaros, auch die Literatur: so erscheinen 1971 Farblithographien zu Texten von Louis Aragon, Federzeichnungen illustrieren Kafkas Texte, z.B. die berühmte "Verwandlung". Auch als Illustrator bleibt Camaro, der Grenzgänger, seinem alten und doch so modernen 'Milieu' treu, wenn er Autoren wie Casanova und Genet seine Bildkraft leiht. Aber ebenso findet sich ein Klassiker wie Goethe unter Camaros 'Musen'. Die 80er-Jahre verlaufen auf zwei Pfaden: Einerseits findet sich eine Weiterentwicklung im Bereich Farbfeld- und Materialbild. Andererseits steht die letzte Dekade in Camaros Arbeit im Zeichen der 'Rückkehr des Gegenständlichen'. Beide Wege verlaufen mit unterschiedlicher Dominanz teils nebeneinander, teils erscheinen sie verflochten, teils wird eine einzige Spur daraus. Das Diptichon "Zauberer und Zaubertisch" von 1983 erforscht weiter v.a. den Bereich des abstrakt-konkreten Farbfeld- und Materialbilds, wobei Camaro auch die Technik der plastisch auftragenden Collage einsetzt, um so den Stoff-Charakter des Tableaus zu erhöhen. Zugleich lädt der suggestive Titel die ungegenständliche Komposition bewusst inhaltlich auf. |
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Alexander Camaro: Zauerer und Zaubertisch, 1983, Diptychon, rechte Hälfte Vergrößerung? Hier klicken! |
Das nächste Bild - "Die reflektierte Braut" von 1984/5 - ist im Erscheinungsbild noch dem Farbfeld-Materialbild-Stil verwandt, zeigt aber auch deutlich, dass gegenständliche Motive wieder eindringen. Immer wieder sind dies Themen mit erotischem Gehalt; das ist zwingende Konsequenz, denn einer abstrakt-konkreten Komposition lässt sich auf Biegen und Brechen kein erotisches Signal entlocken. Eros und Begehrlichkeit im weitesten Sinne binden den Menschen an die Welt des Inhaltlich-Gegenständlichen zurück. |
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Alexander Camaro: Die reflektierte Braut, 1984/5, Vergrößerung? Hier klicken! |
Es ist hier nicht der Platz, auf Subtilitäten der Liniensprache und Motivik einzugehen; lediglich sei nocheinmal auf Camaros Spiel mit Doppeldeutigkeiten hingewiesen: Einerseits - wie der Titel nahe legt - sehen wir uns in ein Mode-Atelier versetzt, wo eine Frau, in insgesamt trüber, wo nicht gar düsterer Stimmung, sich mit Brautkleid im Spiegel betrachtet; zugleich scheint aber der Spiegel ein Röntgen-Schirm zu sein, mit dem Künstler und Betrachter auf eine weitere Bedeutungsebene durchblicken: Die in ihre Rolle als Braut schlüpfende Frau fällt in eins mit einer Kleiderpuppe... Camaro opfert also nicht den durchdringenden Blick auf zwischenmenschliche, private und gesellschaftliche Verhältnisse der "reinen Kunst", dem Schwelgen in der scheinbar unbeschränkten Verfügungsgewalt des gestaltenden Menschen. Gegenstandsloser Malerei ist solch inhaltliche Arbeit per se unmöglich. Waren doch auch mittlerweile die Zeiten des Technik-Optimismus von Futuristen und Konstruktivisten längst passé; statt dessen fing, angesichts zunehmender Umweltprobleme, eine immer tiefer gehende Technik-Skepsis an, überall einzusickern. In diese sich ändernde Grundstimmung passt das folgende Bild: "Passion" - ein Triptychon (nicht das einzige in dieser Phase!), also voller schwergewichtiger, lastender religiöser Anspielungen. |
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Die Künstler dieser Zeit reagieren zwar auch offen politisch (wie z.B. Hans Haacke); die meisten ziehen sich aber eher in eine gegenständliche Welt des Privaten zurück, deren Stimmung von schrill und hipp (durchaus mit einer Note des Unbehagens am offiziellen Hype) bis zu düster orakelnd reicht. Im Umfeld Camaros machen in diesem Sinne v.a. die "Neuen Wilden" von sich reden (Als Beispiel sei hier ein figürliches Bild von Peter Bömmels wiedergegeben: bei ihm ist ein Mensch gefesselt, während er anscheinend seinerseits andere fernzusteuern versucht; bei Camaro, so wirkt es, sitzt jemand hinter Gittern, über ihm kryptische Zeichen; beide sind Gefangene ihrer Umgebung. Einer anderen Gruppierung von Künstlern gibt Harald Szeemann die vielsagende Bezeichnung: "Individuelle Mythologien", ein Terminus, der auch Aspekte Camaros gut erfasst. Camaro hat hier also, wie "Passion" zeigt, auf seine Art den Finger am Puls der Zeit: die 'alte' Farbfeld-Malerei verbindet sich nun mit ominösen, wenig Gutes verheißenden, ja offen leidenden Gestalten, die von einer Aura des Rästselhaften und Oppressiven umhüllt sind... |
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Alexander Camaro: Der Mann im Schilf, 1983, Teil eines Triptychons > |
Auch "Der Mann im Schilf" von 1983 zeigt diese Grundstimmung: Er scheint der Welt der Menschen den Rücken gekehrt zu haben und diese verlassen zu wollen, und - jetzt kommt ein Neues! - in der Natur, im Schilf, 'Erlösung' zu suchen. Die alte, rätselhafte 'Écriture de la nature' (vgl. oben "Die Wege im Gebirge"), die Welt des nicht schon Entschlüsselten und Erschlossenen wird zur randständigen Verheißung: Abkehr von Zwang, Stress und Aggressivität der Zivilisation, Suche nach Frieden in einer utopischen Natur dort draußen... Hatte mit Hilfe der Schrift der Mensch die Natur beherrschen und verwalten gelernt, so kehrt jenes heilversprechende Substrat nun durch Chiffren wieder. Aber nicht, dass diese Hoffnung naiv und heiter wäre; vielmehr haftet dieser Natur etwas Gefahrvoll-Düsteres an und der Gang hinein ins Unenträtselte hat eine depressiv-suizidale Note: das Verschmelzen des Subjekts mit seiner Umwelt als trauriges Verlöschen im Dickicht, nicht als Verklärung im Nirwana... Auf diesem Weg nun, im engen Spannungsverhälnis mit seiner Epoche, erreicht Camaro eine sehr eigenständige Bildsprache, für die sich nur schwer Vergleiche finden lassen, einen Stil, den man 'écritural-naturel' oder 'natur-schriftlich' nennen könnte und der seine Bedeutsamkeit im komplexen Spannungsverhältnis von Kultur und Natur entfaltet. (Vergleichend ließe sich hier allenfalls an die Scribbles eines Cy Twombly denken (Bilder hier!), aber das trifft nicht mehr das Wesentliche der Darstellungs-, Denk- und Empfindungswelt, in die Camaro nun hineingefunden hat.) |
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Alexander Camaro: La Belle Captive, 1982-83, Vergrößerung? Hier klicken! |
"La Belle Captive" ist wohl auf dem Fluchtwege in das rettende Unterholz des Waldes, das vielleicht als Versteck dienen sollte, von ihrem Vergewaltiger ereilt worden. Gleichsam verstümmelt von männlicher Aggression robbt sie immer noch, auch nach ihrer Schändung und Demütigung, weiter auf das dichte Astwerk der Bäume zu, so als fände sie dort einen Schleier, um die Untat und die seelischen Narben zu verhüllen, so als sei die Natur ihr verwandt, als wolle sie die Schutzsuchende bergend aufnehmen. |
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Alexander Camaro: Kendo IV, 1989-90, Vergrößerung? Hier klicken! |
"Kendo IV" zeigt die Konstanz der angesprochenen Motive: Schwertkampf in winterlicher Kälte; das ist die männliche Zivilisation; im Hintergrund wieder jener mit dem Weiblichen assoziierte natürliche Fonds, der zum Entrinnen sich anbietet. Aber auch als Grab steht er bereit... Meisterlich, wie hier das Gestalthaft-Wesentliche der dynamischen Angriffs- und Verteidigungsbewegung gleichsam stroboskopisch eingefangen ist. |
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Alexander Camaro: Leuchtender Nebel - Spuren, 1989 |
In "Leuchtender Nebel - Spuren" (1989) hat offensichtlich jemand - vielleicht Camaro selbst (gestorben 1992) - den Weg aus der schneeigen Lichtung ins dunkle, umhüllende Gehölz genommen. Wie eine Summa seines Suchens erscheint hier der konkrete Abdruck des Natürlichen, des Organischen, des Körpers selbst im Bilde (schon eine Tradition seit dem "Nouveau Réalisme" des Yves Klein [Bilder hier!]), während der Mensch, die kulturelle Persona verschwunden ist, zurückgekehrt und wieder eingegangen in den dunklen Ursprungsgrund der Natur. |
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1951 schon erhält Camaro den Kunstpreis der Stadt Berlin, wird Mitglied im Deutschen Künstlerbund, dann Professor an der HdK Berlin (Hochschule der Künste, heute Universität der Künste) und gründet schließlich eine eigene Künstlervereinigung: die "Neue Gruppe Berlin". 1956 nimmt ihn die Akademie der Künste auf, und 1974 ist er Ehrengast der Villa Massimo in Rom. Zusätzlich zum Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland belohnen sein intensives, fast manisches Schaffen auch internationale Ausstellungserfolge (Pittsburgh, Tokio, Paris, Venedig [Biennale], São Paolo). 1992 stirbt Camaro und hinterlässt einen riesigen Fundus in seinem Haus auf Sylt. Dem Vernehmen nach baut die Familie der Ehefrau, Renate Gentner-Camaro, ihrerseits Malerin, aus dem Erlös der Immobilie z.Z. eine Stiftung auf, die sein Schaffen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen, sowie Wissenschaftler und Künstler in seinem Sinne fördern soll (Bei der Familie Gentner hatte Camaro in ein künsterlisch inspiriertes Umfeld eingeheiratet: noch zwei weitere Malerinnen von Format tragen den Namen Gentner: Margot Trierweiler, verheiratete Gentner, Ehefrau des Bruders von Renate Camaro, und Anke-Paula Gentner, Tochter von Margot Trierweiler). Bisher ist es vor allem die Berlinische Galerie, die sich seines Werks angenommen hat. Ausstellungen (Auswahl): 1946 Galerie Gerd Rosen, Berlin Preise,
Auszeichnungen, 1951 mit dem Kunstpreis der Stadt Berlin
Auftragsarbeiten (Auswahl): 1950 Bühnenbilder für Jean Anouilh: "Colombe", Schlossparktheater, Berlin 1954 Wandbehangentwurf, Bundesverband der Deutschen Industrie, Köln 1956 Außenwand des Elefantenhauses im Berliner Zoo 1957 Entwurf für die Außenwand der Kongresshalle, Berlin 1957 Gobelin-Entwurf für die Weltausstellung Brüssel 1959 Entwürfe für das max-Planck-Institut, München 1963 Farbige Glasfenster für die Philharmonie, Berlin 1963 "Schmiede des Vulkan", Bundeskanzlerbungalow, Bonn 1966 Figurinen zu "Faust II", Inszenierung von Ernst Schröder, Schiller-Theater, Berlin; dazu auch Lithographien, zusammen mit Bernhard Heiliger 1968/69 Triptychon "Großer Kanon: Tg und Nacht", Reichstagsumbau, Berlin Druckgraphik-Editionen:
Publikationen mit Illustrationen von Camaro:
Ausstellungskataloge:
Zeitschriftenartikel:
Interviews:
weiter: Camaro-Literatur bei Deutsche National Bibliothek (22.7.2008) Links: Camaro bei der Berlinische Galerie (22.7.2008) ferner:
Autor: Hilmar H. Werner alias Berliner Tour Guide, 24.7.08
Bildnachweis: hier klicken! Impressum |